Das Grüne Band auf dem ehemaligen Todesstreifen der innerdeutschen Grenze ist heute das größte Biotop Deutschlands. Die Journalistin Beatrix Flatt hat die fast 1400 Kilometer in 63 Tagen erwandert und dabei über 100 Interviews mit Menschen am Grünen Band geführt. Viele ihrer Reportagen sind in ihrem Buch »Grenzenlos« enthalten. Die Helmstedterin lobt dabei vor allem den Harzer Grenzweg als Teil des Grünen Bandes. Er beginnt in Rhoden bei Hornburg und endet nach über 90 Kilometern in Tettenborn bei Bad Sachsa.
Wie hat man sich das Grüne Band heute vorzustellen? Es ist der Streifen zwischen dem Kolonnenweg in der ehemaligen DDR und der innerdeutschen Grenze, 50 bis 200 Meter breit. Er zieht sich vom Dreiländereck (Sachsen-Bayern-Tschechien) bei Hof bis Travemünde an der Ostsee.
Beatrix Flatt traf an vielen Orten auf unberührte Natur: »Im Schatten der Grenze, in dieser Wildnis und Einsamkeit, konnten viele Tier- und Pflanzenarten überleben, die woanders keinen Lebensraum mehr fanden. Mindestens 1200 Arten, die im Grünen Band leben, gelten als gefährdet und stehen somit auf der Roten Liste.«
An einigen Stellen ist das Grüne Band unterbrochen, etwa durch Autobahnen oder Eisenbahnschienen. Andere Teile sind derart zugewuchert, dass man sich sozusagen durchs Gebüsch schlagen muss, erzählt Flatt bei einer Lesung am 23. Mai 2025 in der Lewer Däle in Liebenburg.
»Ganz allein mit Rucksack und Laptop«
Sie habe das Abenteuer »Grünes Band« ganz allein mit Rucksack und Laptop erwandert. Die Vorbereitung des Projekts, so Flatt, erfordere viel Disziplin und habe ein halbes Jahr in Anspruch genommen, zum Beispiel die Terminplanung mit den Gesprächspartnern. Nach jeder Tagesetappe habe sie ihre Erfahrungen noch am selben Abend in einem Blog zusammengefasst. Bei den vielen Gesprächen und Eindrücken wäre es sonst kaum möglich gewesen, ein Buch darüber zu schreiben, betont sie. Eine Unterkunft für die Nacht zu finden, war für sie häufig eine echte Hürde. »Wählerisch darf man da nicht sein.«
»Im Harz ist vieles anders«
Das Grüne Band im Harz, das deckungsgleich mit dem Harzer Grenzweg ist, bekommt von Beatrix Flatt ein großes Lob. Während 70 Prozent der Strecke nicht ausgeschildert ist, sei die Wegführung auf dem Grenzweg geradezu vorbildlich.
Was macht den Harzer Grenzweg so besonders? Es war die am besten gesicherte Grenze der Welt: Drei Meter hohe Zäune, Todesstreifen, Minenfelder, Wachtürme und Selbstschussanlagen. Abhöreinrichtungen des Bundesnachrichtendienstes, der Briten, der Amerikaner und der Sowjets gab es auf jedem höheren Gipfel. Im Harz hat man den Ost-West-Konflikt so hautnah spüren können, wie kaum irgendwo sonst. Im Ort Sorge ist die perfide Grenzlandschaft teilweise als Freilichtmuseum erhalten geblieben, einmalig in Deutschland.
»Mit Wanderschuhen oder per Mountainbike«
»Während ich außerhalb des Harzes fast niemandem begegnet bin, war es auf dem Grenzweg ganz anders«, schildert Beatrix Flatt ihre Erfahrungen. Hier gebe es ein reges Interesse der Touristen, ob mit Wanderschuhen oder per Mountainbike.
Beatrix Flatt über ihre Eindrücke auf dem Harzer Grenzweg.Uwe Siebels, Vorsitzender des Harzklubs Bad Harzburg, freut sich auf das Grüne Band.
Die idyllische Lewer Däle in Liebenburg, wo der Vortrag über das Grüne Band stattfand.Claudia Schütte ist in der Lewer Däle ehrenamtlich für die Lesebühne zuständig.
Der rund 20 Kilometer lange Abschnitt über den Brocken, bei dem 1000 Höhenmeter überwunden werden müssen, sei schon eine Herausforderung, zumal es nicht nur Waldwege sind, sondern häufig die gelöcherten Betonplatten des alten Kolonnenweges. Wer den gesamten Grenzweg erkunden möchte, hat über 90 Kilometer vor sich.
Tatsächlich kann man sich beim Schreiben über den Harzer Grenzweg von seinen eigenen Erinnerungen und Gefühlen nicht frei machen: Die Schneeballschlacht in Braunlage, direkt an der Grenze unter den Augen der Volkspolizisten der DDR mit den Braunschweiger Schulfreunden Dietrich, Etzi und Matze etwa. Gemischte Gefühle, die sich eingebrannt haben, als wäre es gestern gewesen; genauso wie der schockierende erste Blick auf die Grenzabsperrung mitten auf der Staumauer der Eckertalsperre.
»Flatts nächstes Projekt: Der Iron Curtain«
Der Harzer Grenzweg ist aber nicht nur Teil des Grünen Bandes, sondern auch Teil einer Grenze zwischen den Weltmächten. Sie zog sich auf 12.500 Kilometern vom Schwarzen Meer bis zum Eismeer in Norwegen.
Während ich diese Zeilen schreibe, ist Beatrix Flatt mitten in ihrem nächsten Abenteuer. Seit 5. Juni ist sie auf dem Iron Curtain, dem »Eisernen Vorhang« in Nordeuropa unterwegs. Aber sie sagt unverblümt: »Vor ein paar Jahren hätte ich im Norden noch grenzüberschreitend unterwegs sein können. Das ist heute durch die neue weltpolitische Lage zu gefährlich.« Teile der finnisch-russischen Grenze werde sie meiden.
Text, Fotos, Videos und Gestaltung: Michael Hotop, Jochen Hotop
Blick ins Buch
Als Hippie in der DDR
Auf einem Holztisch, direkt am Kolonnenweg und in Sichtweite der Reste der Görsdorfer Mauer im Landkreis Sonneberg, öffnet Horst Müller einen vollen Aktenordner. Es sind die kompletten Kopien seiner Stasi Akte, die er vor einigen Jahren in Suhl eingesehen hat. »Ich habe lange überlegt, ob ich das machen sollte. Die Vorstellung, dass einer meiner Kumpels, mit denen ich meine Jugend verbracht habe, ein inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Stasi gewesen sein könnte, hätte ich schwer ertragen«, erklärt er seine Bedenken. Zum Glück war das nicht der Fall.
Horst Müller, Jahrgang 1949, lebte 27 Jahre im Sperrgebiet in Görsdorf in Thüringen, etwa 300 Meter von der innerdeutschen Grenze entfernt. Somit lag Görsdorf gleichzeitig im Sperrgebiet und im 500 Meter breiten Schutzstreifen. 1981 wurde eine etwa 3,5 Meter hohe Betonmauer, die vor allem als Sichtblende dienen sollte, gebaut – die Görsdorfer Mauer. Von seiner Kindheit erzählt er nicht viel: »Uns ging es als Kinder in der DDR nicht schlecht.« Der tägliche Schulweg zu Fuß ins zwei Kilometer entfernte Truckendorf war eher Abenteuer als Last. »Wir waren unter ständiger Beobachtung der DDR-Grenztruppen und in Sichtweite der Amerikaner, die auf westlicher Seite patrollierten.« Von seiner Jugend erzählt er lebendiger. »Ich hatte lange Haare. Es war die Hippie-Zeit und da wollten wir doch auch mitmachen.« Er erinnert sich, dass er von der Verwandtschaft bunte Weststoffe bekam und seine Mutter ihm daraus modische Kleidungsstücke nähte. Er genoss das Leben, besuchte regelmäßig Tanzveranstaltungen, trank gerne Alkohol und war in der Schule und in der Ausbildung zum Schmied nicht besonders gewissenhaft. Vielleicht wäre das in einem anderen kleinen DDR-Dorf kaum zur Kenntnis genommen worden, aber die Bewohner im Sperrgebiet standen unter strenger Beobachtung.
Den ersten Konflikt mit dem Staat hatte er 1967, als zwei ehemalige Schulkollegen in den Westen fliehen wollten. Sie kannten sich direkt an der Grenze nicht so gut aus und baten ihn um Hilfe. Er sollte das Moped bekommen, dass sie zurücklassen wollten. Aber er wollte vor allem den Jugendlichen helfen. »Ich sollte mit in den Westen gehen, aber das wollte ich nicht. Ich hatte doch meine Kumpels hier.« Bevor es los ging, wurden die beiden Flüchtlinge erwischt, und die Spur führte auch zu Horst Müller. Es folgten zehn Monate Gefängnis wegen Fluchthilfe.
»In die Sperrzone kam keiner ohne Kontrolle rein«, beschreibt er die Situation. »Da gab es einen Schlagbaum und ein Kontrollhäuschen.« Der Schlagbaum wurde nur nach Kontrolle der Papiere geöffnet. Bewohner der Sperrzone hatten einen Eintrag im Pass, andere mussten einen Passierschein vorlegen. Diesen gab es nur für diejenigen, die Verwandtschaft im Sperrbezirk oder beruflich dort zu tun hatten. »Aber nur für zu zuverlässige Menschen.« Müller erzählt von Fußballern, die plötzlich nicht mehr zu den Spielen durften, da diese im Sperrgebiet stattfanden. »Man durfte auch immer nur in sein eigenes Sperrgebiet und nicht in das benachbarte.«
Müller ging als Jugendlicher viel auf Tanzveranstaltungen, allerdings »mussten wir immer bis 11:00 Uhr zurück sein. Aber da war’s doch oft am schönsten.« Er erzählt Geschichten, wie die Jugendlichen versuchten, diese Regel zu umgehen, und freut sich noch heute darüber, dass es manchmal geklappt hat. Bei einem Wirt haben wir die Uhr verstellt,
Reste der Görsdorfer Mauer stehen noch als Mahnmal. (Fotos: Beatrix Flatt)
so dass dieser sie nicht aus Pflichtbewusstsein nach Hause schickte. Manchmal schlichen Sie sich an den Kontrollpunkten vorbei, manchmal waren die Volkspolizisten gnädig und ließen sie nachts einfach durch. Aber es sei auch vorgekommen, dass die Polizei gerufen wurde und sie verhört habe.
Jahrzehnte später liest Müller, seine Stasi Akte und erfährt, wie genau er tatsächlich beobachtet wurde. Es sind alle Verhörprotokolle zu seiner »Fluchthilfe« gesammelt. Danach folgen regelmäßige Notizen und Aussagen von IMs: »Er ist in seinem Auftreten prowestlich eingestellt. Besonders stark ist ausgeprägt, dass er sich viel, d.h. nur Westmusik und Westfernsehen anhört und ansieht.« Müller schwärmt: »Creedence Clearwater Revival war meine Lieblingsband. Wir haben viele Tonaufnahmen vom Westradio gemacht.« In der Stasi Akte heißt es weiter. »Zu seinem charakterlichen Auftreten wäre noch zu sagen, dass er oft trinkt und lange Haare trägt.« Weiter wird erwähnt, dass er häufig mit seinem Moped zum Tanz fährt und die Bekanntschaften mit Mädels wechselt. »Stimmt«, sagt Müller. »Ich hatte viele Freundinnen. Später wurde in den Akten sogar erwähnt, wann er mit welcher Freundin Schluss gemacht hat. Aus den Unterlagen geht hervor, dass Stasimitarbeiter auch mit dem damaligen Bürgermeister über Horst Müller sprachen. »Er tritt nach wie vor überheblich und zum Teil auch frech in Erscheinung.« Und auch hier sind wieder die Tanzveranstaltungen außerhalb des Sperrgebiets Thema. »Bei uns war ja nichts los«, kommentiert er heute den Eintrag. In den Gesprächen rund um die Musterung für die NVA (Nationale Volksarmee) ist protokolliert: »Die Grundeinstellung ist negativ. Die Verhältnisse im Westdeutschland werden verherrlicht.« Er wird sogar zitiert: »… wenn wir erst drüben wieder ein Bier trinken.«
»Im Grunde ist alles belanglos«, kommentiert Horst Müller die Akte. »Meine Kumpels standen zu mir, aber bei manchen, die über mich ausgesagt haben, habe ich mich schon gewundert.« 1976 verließ er das Sperrgebiet, da er heiratete. Danach benötigte er selbst einen Passierschein, um seine Eltern zu besuchen. »Als Besucher des Sperrgebiets durfte man nur auf kürzestem Weg zu seinen Verwandten und zurück. Aber ich kannte mich ja hier gut aus und ging als Besucher trotzdem regelmäßig in die Pilze.«
Das Grüne Band auf dem ehemaligen Todesstreifen der innerdeutschen Grenze ist heute das größte Biotop Deutschlands. Die Journalistin Beatrix Flatt hat die fast 1400 Kilometer in 63 Tagen erwandert und dabei über 100 Interviews mit Menschen am Grünen Band geführt. Viele ihrer Reportagen sind in ihrem Buch »Grenzenlos« enthalten. Die Helmstedterin lobt dabei vor allem den Harzer Grenzweg als Teil des Grünen Bandes. Er beginnt in Rhoden bei Hornburg und endet nach über 90 Kilometern in Tettenborn bei Bad Sachsa.
Wie hat man sich das Grüne Band heute vorzustellen? Es ist der Streifen zwischen dem Kolonnenweg in der ehemaligen DDR und der innerdeutschen Grenze, 50 bis 200 Meter breit. Er zieht sich vom Dreiländereck (Sachsen-Bayern-Tschechien) bei Hof bis Travemünde an der Ostsee.
Beatrix Flatt traf an vielen Orten auf unberührte Natur: »Im Schatten der Grenze, in dieser Wildnis und Einsamkeit, konnten viele Tier- und Pflanzenarten überleben, die woanders keinen Lebensraum mehr fanden. Mindestens 1200 Arten, die im Grünen Band leben, gelten als gefährdet und stehen somit auf der Roten Liste.«
An einigen Stellen ist das Grüne Band unterbrochen, etwa durch Autobahnen oder Eisenbahnschienen. Andere Teile sind derart zugewuchert, dass man sich sozusagen durchs Gebüsch schlagen muss, erzählt Flatt bei einer Lesung am 23. Mai 2025 in der Lewer Däle in Liebenburg.
»Ganz allein mit Rucksack und Laptop«
Sie habe das Abenteuer »Grünes Band« ganz allein mit Rucksack und Laptop erwandert. Die Vorbereitung des Projekts, so Flatt, erfordere viel Disziplin und habe ein halbes Jahr in Anspruch genommen, zum Beispiel die Terminplanung mit den Gesprächspartnern. Nach jeder Tagesetappe habe sie ihre Erfahrungen noch am selben Abend in einem Blog zusammengefasst. Bei den vielen Gesprächen und Eindrücken wäre es sonst kaum möglich gewesen, ein Buch darüber zu schreiben, betont sie. Eine Unterkunft für die Nacht zu finden, war für sie häufig eine echte Hürde. »Wählerisch darf man da nicht sein.«
»Im Harz ist vieles anders«
Das Grüne Band im Harz, das deckungsgleich mit dem Harzer Grenzweg ist, bekommt von Beatrix Flatt ein großes Lob. Während 70 Prozent der Strecke nicht ausgeschildert ist, sei die Wegführung auf dem Grenzweg geradezu vorbildlich.
Was macht den Harzer Grenzweg so besonders? Es war die am besten gesicherte Grenze der Welt: Drei Meter hohe Zäune, Todesstreifen, Minenfelder, Wachtürme und Selbstschussanlagen. Abhöreinrichtungen des Bundesnachrichtendienstes, der Briten, der Amerikaner und der Sowjets gab es auf jedem höheren Gipfel. Im Harz hat man den Ost-West-Konflikt so hautnah spüren können, wie kaum irgendwo sonst. Im Ort Sorge ist die perfide Grenzlandschaft teilweise als Freilichtmuseum erhalten geblieben, einmalig in Deutschland.
»Mit Wanderschuhen oder per Mountainbike«
»Während ich außerhalb des Harzes fast niemandem begegnet bin, war es auf dem Grenzweg ganz anders«, schildert Beatrix Flatt ihre Erfahrungen. Hier gebe es ein reges Interesse der Touristen, ob mit Wanderschuhen oder per Mountainbike.
Der rund 20 Kilometer lange Abschnitt über den Brocken, bei dem 1000 Höhenmeter überwunden werden müssen, sei schon eine Herausforderung, zumal es nicht nur Waldwege sind, sondern häufig die gelöcherten Betonplatten des alten Kolonnenweges. Wer den gesamten Grenzweg erkunden möchte, hat über 90 Kilometer vor sich.
Tatsächlich kann man sich beim Schreiben über den Harzer Grenzweg von seinen eigenen Erinnerungen und Gefühlen nicht frei machen: Die Schneeballschlacht in Braunlage, direkt an der Grenze unter den Augen der Volkspolizisten der DDR mit den Braunschweiger Schulfreunden Dietrich, Etzi und Matze etwa. Gemischte Gefühle, die sich eingebrannt haben, als wäre es gestern gewesen; genauso wie der schockierende erste Blick auf die Grenzabsperrung mitten auf der Staumauer der Eckertalsperre.
»Flatts nächstes Projekt: Der Iron Curtain«
Der Harzer Grenzweg ist aber nicht nur Teil des Grünen Bandes, sondern auch Teil einer Grenze zwischen den Weltmächten. Sie zog sich auf 12.500 Kilometern vom Schwarzen Meer bis zum Eismeer in Norwegen.
Während ich diese Zeilen schreibe, ist Beatrix Flatt mitten in ihrem nächsten Abenteuer. Seit 5. Juni ist sie auf dem Iron Curtain, dem »Eisernen Vorhang« in Nordeuropa unterwegs. Aber sie sagt unverblümt: »Vor ein paar Jahren hätte ich im Norden noch grenzüberschreitend unterwegs sein können. Das ist heute durch die neue weltpolitische Lage zu gefährlich.« Teile der finnisch-russischen Grenze werde sie meiden.
Text, Fotos, Videos und Gestaltung: Michael Hotop, Jochen Hotop
Als Hippie in der DDR
Auf einem Holztisch, direkt am Kolonnenweg und in Sichtweite der Reste der Görsdorfer Mauer im Landkreis Sonneberg, öffnet Horst Müller einen vollen Aktenordner. Es sind die kompletten Kopien seiner Stasi Akte, die er vor einigen Jahren in Suhl eingesehen hat. »Ich habe lange überlegt, ob ich das machen sollte. Die Vorstellung, dass einer meiner Kumpels, mit denen ich meine Jugend verbracht habe, ein inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Stasi gewesen sein könnte, hätte ich schwer ertragen«, erklärt er seine Bedenken. Zum Glück war das nicht der Fall.
Horst Müller, Jahrgang 1949, lebte 27 Jahre im Sperrgebiet in Görsdorf in Thüringen, etwa 300 Meter von der innerdeutschen Grenze entfernt. Somit lag Görsdorf gleichzeitig im Sperrgebiet und im 500 Meter breiten Schutzstreifen. 1981 wurde eine etwa 3,5 Meter hohe Betonmauer, die vor allem als Sichtblende dienen sollte, gebaut – die Görsdorfer Mauer. Von seiner Kindheit erzählt er nicht viel: »Uns ging es als Kinder in der DDR nicht schlecht.« Der tägliche Schulweg zu Fuß ins zwei Kilometer entfernte Truckendorf war eher Abenteuer als Last. »Wir waren unter ständiger Beobachtung der DDR-Grenztruppen und in Sichtweite der Amerikaner, die auf westlicher Seite patrollierten.« Von seiner Jugend erzählt er lebendiger. »Ich hatte lange Haare. Es war die Hippie-Zeit und da wollten wir doch auch mitmachen.« Er erinnert sich, dass er von der Verwandtschaft bunte Weststoffe bekam und seine Mutter ihm daraus modische Kleidungsstücke nähte. Er genoss das Leben, besuchte regelmäßig Tanzveranstaltungen, trank gerne Alkohol und war in der Schule und in der Ausbildung zum Schmied nicht besonders gewissenhaft. Vielleicht wäre das in einem anderen kleinen DDR-Dorf kaum zur Kenntnis genommen worden, aber die Bewohner im Sperrgebiet standen unter strenger Beobachtung.
Den ersten Konflikt mit dem Staat hatte er 1967, als zwei ehemalige Schulkollegen in den Westen fliehen wollten. Sie kannten sich direkt an der Grenze nicht so gut aus und baten ihn um Hilfe. Er sollte das Moped bekommen, dass sie zurücklassen wollten. Aber er wollte vor allem den Jugendlichen helfen. »Ich sollte mit in den Westen gehen, aber das wollte ich nicht. Ich hatte doch meine Kumpels hier.« Bevor es los ging, wurden die beiden Flüchtlinge erwischt, und die Spur führte auch zu Horst Müller. Es folgten zehn Monate Gefängnis wegen Fluchthilfe.
»In die Sperrzone kam keiner ohne Kontrolle rein«, beschreibt er die Situation. »Da gab es einen Schlagbaum und ein Kontrollhäuschen.« Der Schlagbaum wurde nur nach Kontrolle der Papiere geöffnet. Bewohner der Sperrzone hatten einen Eintrag im Pass, andere mussten einen Passierschein vorlegen. Diesen gab es nur für diejenigen, die Verwandtschaft im Sperrbezirk oder beruflich dort zu tun hatten. »Aber nur für zu zuverlässige Menschen.« Müller erzählt von Fußballern, die plötzlich nicht mehr zu den Spielen durften, da diese im Sperrgebiet stattfanden. »Man durfte auch immer nur in sein eigenes Sperrgebiet und nicht in das benachbarte.«
Müller ging als Jugendlicher viel auf Tanzveranstaltungen, allerdings »mussten wir immer bis 11:00 Uhr zurück sein. Aber da war’s doch oft am schönsten.« Er erzählt Geschichten, wie die Jugendlichen versuchten, diese Regel zu umgehen, und freut sich noch heute darüber, dass es manchmal geklappt hat. Bei einem Wirt haben wir die Uhr verstellt,
so dass dieser sie nicht aus Pflichtbewusstsein nach Hause schickte. Manchmal schlichen Sie sich an den Kontrollpunkten vorbei, manchmal waren die Volkspolizisten gnädig und ließen sie nachts einfach durch. Aber es sei auch vorgekommen, dass die Polizei gerufen wurde und sie verhört habe.
Jahrzehnte später liest Müller, seine Stasi Akte und erfährt, wie genau er tatsächlich beobachtet wurde. Es sind alle Verhörprotokolle zu seiner »Fluchthilfe« gesammelt. Danach folgen regelmäßige Notizen und Aussagen von IMs: »Er ist in seinem Auftreten prowestlich eingestellt. Besonders stark ist ausgeprägt, dass er sich viel, d.h. nur Westmusik und Westfernsehen anhört und ansieht.« Müller schwärmt: »Creedence Clearwater Revival war meine Lieblingsband. Wir haben viele Tonaufnahmen vom Westradio gemacht.« In der Stasi Akte heißt es weiter. »Zu seinem charakterlichen Auftreten wäre noch zu sagen, dass er oft trinkt und lange Haare trägt.« Weiter wird erwähnt, dass er häufig mit seinem Moped zum Tanz fährt und die Bekanntschaften mit Mädels wechselt. »Stimmt«, sagt Müller. »Ich hatte viele Freundinnen. Später wurde in den Akten sogar erwähnt, wann er mit welcher Freundin Schluss gemacht hat. Aus den Unterlagen geht hervor, dass Stasimitarbeiter auch mit dem damaligen Bürgermeister über Horst Müller sprachen. »Er tritt nach wie vor überheblich und zum Teil auch frech in Erscheinung.« Und auch hier sind wieder die Tanzveranstaltungen außerhalb des Sperrgebiets Thema. »Bei uns war ja nichts los«, kommentiert er heute den Eintrag. In den Gesprächen rund um die Musterung für die NVA (Nationale Volksarmee) ist protokolliert: »Die Grundeinstellung ist negativ. Die Verhältnisse im Westdeutschland werden verherrlicht.« Er wird sogar zitiert: »… wenn wir erst drüben wieder ein Bier trinken.«
»Im Grunde ist alles belanglos«, kommentiert Horst Müller die Akte. »Meine Kumpels standen zu mir, aber bei manchen, die über mich ausgesagt haben, habe ich mich schon gewundert.« 1976 verließ er das Sperrgebiet, da er heiratete. Danach benötigte er selbst einen Passierschein, um seine Eltern zu besuchen. »Als Besucher des Sperrgebiets durfte man nur auf kürzestem Weg zu seinen Verwandten und zurück. Aber ich kannte mich ja hier gut aus und ging als Besucher trotzdem regelmäßig in die Pilze.«